Klarer Kompass
Neulich war meine Enkeltochter zu Besuch. „Guck mal, da kommt der coolste Opa der Welt!“, flötete ihr meine Schwiegertochter ins Ohr, als ich abends nach Hause kam. Meiner Enkelin ist es ziemlich egal, ob ich cool bin oder nicht. Sie ist sieben Monate alt und findet es eigentlich nur wichtig, dass ich sie sofort auf den Arm nehme und durchs Haus trage, wenn sie flehend ihre kleinen Hände ausstreckt. Was also findet ihre Mutter cool an mir? Macht sie sich über mich lustig, will sie mir schmeicheln oder liegt es womöglich an meinem – zugegebenermaßen – sehr coolen Outfit? Wenn ich mich nicht aus irgendeinem Anlass verkleiden muss, sieht mein Ausgehanzug nämlich in der Regel so aus: Hoodie, T-Shirt, Jeans. Die Schuhe sind meistens Chucks in täglich wechselnden Farben, auf der Nase oder auf dem Kopf immer eine Wayfarer, nicht nur als Sonnenbrille. Normal.
Damit kein Zweifel aufkommt: Ich bin tatsächlich in einem Alter, in dem man Großvater sein kann und darf. 1961 geboren, gehöre ich zu den sogenannten geburtenstarken Jahrgängen. In den USA bezeichnet man diese Generation, etwas weniger sperrig, als die Baby Boomer. Seit Menschengedenken hat keine Generation so viel Wert darauf gelegt, sich von ihren Eltern abzusetzen, wie die Baby Boomer. Als Teenager wussten wir, dass wir ALLES falsch gemacht hatten, wenn unseren Eltern IRGENDWAS an uns gefiel. Klarer Kompass: Was würden Deine Eltern Dir raten? Tu das Gegenteil! Wenn mir heute auf Lüneburgs Schröderstraße, dem Laufsteg der Stadt, zwei Damen entgegen kommen, kann ich oft erst im Vorbeigehen erkennen, dass es sich nicht um Zwillinge Ende zwanzig handelt, sondern offenbar um Mutter und Tochter. Natürlich stellt sich auch mir in solchen Situationen die Frage, ob ich mal wieder die Sehstärken an meiner Wayfarer justieren lassen sollte. Die eigentliche Frage ist aber: Sind die Baby Boomer inzwischen die Generation, die alles daran setzt, so zu sein wie ihre Kinder?
Anfang August 1961, als in Ostberlin noch für weitere 11 Tage niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten, wurde ich während des Kirchröder Schützenfestes geboren. Kirchrode ist ein – damals noch sehr dörflicher – Stadtteil von Hannover, der Welthauptstadt des Schützenwesens. In schicker Uniform brachte mein Vater damals meiner Mutter einen prachtvollen Strauß verwelkter Blumen vom Schützenausmarsch ans Wochenbett. Mir legte er den Geruch von Lütje Lagen und Bratwurst in die Wiege. Wo wir gerade von Kindheitstraumata sprechen: Erinnert sich noch jemand an Hemden aus Nyltest und an Lederhosen? Wenn ein Nyltesthemd, hergestellt aus Polyamidfasern, neu war, hatte es eine relativ glatte Oberfläche, die jedoch, zum Beispiel von den Hosenträgern der Lederhose, schnell aufgeraut wurde. Dort blieb man dann gerne mit den Fingernägeln hängen... [Pause wegen Gänsehaut.]
Schöner als Nyltesthemden fand ich die Kleidung der Gammler. So nannte man damals die Hippies, die es sich Ende der Sechziger bei gutem Wetter in Hannover auf dem Georgsplatz gemütlich machten und vor denen mein Vater mich immer warnte. Ich war mindestens 12 Jahre alt, als ich erstmals eine Nietenhose (altdeutsch für Jeans) bekam. Die war allerdings so peinlich, weil nicht amerikanisch, dass ich sie so gut wie nie anzog. Mein Vater trug berufsbedingt täglich Maßanzüge mit Weste, zu besonderen Anlässen mit goldener Uhrkette. Ich achtete genauso auf meine Garderobe: Spätestens als ich sechzehn war hatten meine Jeans ganz viel Schlag, jede Menge Löcher und Risse und wurden während langweiliger Lateinstunden mit einem Kugelschreiber ornamentiert. Dazu gehörte ein grüner Militärparka und als Schultasche eine NATO-Umhängetasche, die sofort mit großen Peace-Zeichen geschmückt wurde; schließlich war man Kriegsgegner.
In der letzten Septemberausgabe des Magazins „The Atlantic“ las ich kürzlich, dass die Teenager der heutigen iPhone-Generation, genannt iGen, sehr häuslich sind, weil sie am liebsten zuhause per Smartphone mit ihren Freunden chatten, sich vor analogen Begegnungen, von Körper zu Körper, aber eher fürchten. Wir waren damals auch sehr häuslich. Wenn zum Beispiel die Eltern meines Klassenkameraden Karl-Georg Schulze mal wieder für drei Wochen verreist waren, lebten wir mit gefühlt dreißig bis vierzig jungen Menschen bei Karl zuhause, hatten eine schöne und unbeschwerte Zeit, in der sich manche auch physisch näher kamen.
Zurück zur Ausgangsfrage: Liebe Millenials, nein, wir Baby Boomer versuchen nicht, so cool wie Ihr zu sein. Wir haben cool erfunden! Wenn Ihr es uns gleich tun wollt, viel Glück. Vergesst aber bitte nicht, dass Alkohol und andere Drogen, freier Sex und per Anhalter fahren heutzutage ziemlich gefährlich sind. Falls Ihr jedoch mal wissen wollt, was wirklich uncool ist, dann geht zum nächsten Rolling Stones Konzert.