Fly Me to the Moon
„Warum kommst Du schon wieder zu spät?“, herrschte die Lehrerin mich an. „Ich musste noch die Zeitung zu Ende lesen. Apollo 7 ist unterwegs!“ Die Ohrfeige kam überraschend und sie tat weh. Aber ich wusste, dass ich gewonnen hatte.
Countdown
Für die US-Raumfahrtbehöre NASA begann das Unternehmen Mondlandung am 27. Januar 1967 mit einem Desaster. Während einer Countdown-Übung, einen Monat vor dem geplanten Start von Apollo 1, löste ein Kurzschluss in der Kommandokapsel des neuen Raumschiffs ein Feuer aus. Wegen eines Konstruktionsfehlers war es den drei Astronauten unmöglich, rechtzeitig von innen die Einstiegsluke zu öffnen; sie verbrannten. Bis zum ersten Mal Astronauten für einen Apollo-Testflug in eine Erdumlaufbahn starteten, sollten weitere 21 Monate vergehen.
In der Testphase für die bevorstehende Einschulung hatte ich, zu dieser Zeit fünfeinhalb Jahre alt, gerade einen persönlichen Erfolg errungen, den meine Eltern wohl eher auch als Desaster empfanden. Sehr eingespannt in den Betrieb ihres Bekleidungsgeschäfts hatten sie kaum Zeit für die Kindererziehung und deshalb entschieden, mich in den Kindergarten zu geben. Leiterin der Einrichtung war eine kaltherzige ältliche Dame, die wir „Tante Gertrud“ zu nennen hatten. Es herrschten strenge Regeln: Die ekelerregende Haut auf der heißen Milch musste auf das Brot gelegt und gegessen werden, mittags hatte man zu schlafen – in lächerlichen Kleinkinderbetten – und vor allem musste man „lieb sein“. Weil ich wegen Aufsässigkeit meistens in der Ecke stand, hatten meine Eltern schließlich ein Einsehen und befreiten mich Anfang 1967 wieder aus Tante Gertruds Fängen.
Lift Off!
Im Oktober 1968 hob Apollo 7 von seiner Startrampe in Florida ab, in neuer, sicherer technischer Ausstattung. Letztlich hatte es wohl zu der Katastrophe von Apollo 1 kommen müssen, damit das vom Kalten Krieg mit der Sowjetunion befeuerte Mondlandeprogramm, damals unfassbare 24 Milliarden Dollar teuer, zum Erfolg werden konnte. Beim elftägigen Flug von Apollo 7 wurden alle Systeme der Kommandokapsel und des Service-Moduls der Rakete in einer Erdumlaufbahn erfolgreich getestet. Nur die recht launische Besatzung um Commander Wally Schirra verhielt sich nicht so, wie man es sich gewünscht hatte; mehr als einmal widersetzte sie sich den Anweisungen Houstons. Dies verärgerte die Controller so sehr, dass nicht wenige von ihnen Apollo 7 in einem Sturmgebiet im Pazifik landen lassen wollten.
Die Kopfnoten meines ersten Zeugnisses im Sommer 1968 lauteten „Verhalten in der Schule: befriedigend“ und „Beteiligung am Unterricht: sehr gut“. Mit „befriedigend“ beurteiltes Verhalten war eigentlich die Vorstufe zur Einweisung in das damals von allen Kindern gefürchtete „Erziehungsheim“. Doch ich blieb entspannt. Schließlich hatte die Schule für mich ihren Hauptzweck schon längst erfüllt, denn nach etwa drei Monaten konnte ich Zeitung lesen. Meine Eltern gaben damit vor Verwandten und Freunden tüchtig an, mit dem Erfolg, dass ich zum Beweis bei jeder Gelegenheit aus der aktuellen Tageszeitung vorlesen musste.
Meine Faszination für Apollo wurde eindeutig von Zeitung und Radio geweckt. Einen Fernseher gab es bei uns nicht. „Warum kommst Du schon wieder zu spät?“, herrschte die von mir als Lehrerin wenig geliebte Frau Rimbach mich eines Morgens im Herbst 1968 an. „Ich musste noch die Zeitung zu Ende lesen. Apollo 7 ist unterwegs!“ Die Ohrfeige kam überraschend und sie tat weh. Aber ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Von nun an ließ Frau Rimbach mich in Ruhe.
Fly Me to the Moon
Die emsige Zeitungslektüre dämpfte meine Sehnsucht nach einem Fernseher nicht, sie verstärkte sie noch. Aber meine Eltern ließen nicht mit sich reden. „Können wir uns nicht leisten!“ hieß es. Dabei hatte mein Vater doch mit dem Vermieten einer Einliegerwohnung an türkische „Gastarbeiter“-Familien eine neue Einnahmequelle aufgetan. Zuerst zog Familie Akar ein. Deren kleiner Sohn Feridun war zwar ganz possierlich, taugte aber noch weniger zum Spielkameraden als mein jüngerer Bruder Paul. Irgendwann kaufte Herr Akar einen Fernseher, und von nun an verbrachte ich viele Stunden mit seiner Familie in der engen Wohnung. Kurz bevor im Dezember 1968 mit Apollo 8 erstmals ein Raumschiff die Erdumlaufbahn verließ und zum Mond flog, zog Familie Akar wieder aus. Eine Katastrophe!
Am Heiligabend umkreisten Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders als erste Menschen den Mond und funkten von dort Fernsehbilder zur Erde. Am nächsten Morgen überredete ich meine Eltern, unseren muslimischen Freunden einen Weihnachtsbesuch abzustatten. Akars wohnten jetzt in einem Gewerbegebiet über der Tischlerei, in der Herr Akar arbeitete. Die Wohnung war groß, leer und zugig. Im Ersten schauten wir die Zusammenfassung der nächtlichen Live-Übertragung an und lauschten mit unseren Gastgebern andächtig den Astronauten, die uns zunächst aus der Genesis vorlasen und dann ein frohes Weihnachtsfest wünschten. Ich war selig.
The Eagle Has Landed
Nach erfolgreichen Tests der Mondlandefähre in Erd- und Mondumlaufbahn durch Apollo 9 und 10, sollten mit Apollo 11 am 20. Juli 1969 Menschen erstmals auf dem Mond landen. Anstatt aus diesem Anlass irgendwo bei Freunden vor einem Fernseher zu sitzen, hatten meine Eltern es sich in den Kopf gesetzt, mit dem Auto einen Sonntagsausflug nach Porta Westfalica zu unternehmen. Ich hoffte natürlich auf rechtzeitige Rückkehr am Abend oder wenigstens auf eine Raststätte mit Fernseher. Doch als die geplante Landezeit näher rückte, entdeckte mein Vater eine Tankstelle, an der der Liter Sprit immer noch weniger als 50 Pfennig kostete, und reihte sich zu meinem Entsetzen in die endlose Schlange wartender Autos ein. Ich gab auf.
Als Neil Armstrong Stunden nach der Landung als erster Mensch den Mond betrat, lag ich längst in meinem Bett, eingeschlafen voller Groll auf meinen Vater und auf die Zeitplaner der NASA.
Houston, We‘ve Had a Problem
An einem Mittwoch im Dezember 1969, kurz nachdem Apollo 12 von der zweiten Mondlandung zurückgekehrt war, kam er endlich: der Nordmende Spectra. Der schönste Fernseher, den ich je gesehen hatte, mit sechs schicken Programmtasten – zwei mehr als man damals brauchte. Doch etwas irritierte: Der Anschaltknopf war ein Schlüssel, den meine Eltern, wenn sie Abends mit den Nachbarn in die Kneipe gingen, abzogen und versteckten. Zum Glück war das Versteck bald gefunden; fast war ich beleidigt, dass man meinem Spürsinn so wenig zutraute.
Meine erste „Mondlandung daheim“ sollte mit Apollo 13 im April 1970 stattfinden. Jede noch so belanglose Live-Übertragung, die Jim Lovell und seine Crew vom Mondtransit sendeten, schaute ich mir an. Doch als ich am Morgen des 14. April aufwachte, musste ich erfahren, dass ein Sauerstofftank des Raumschiffs explodiert und die Mission abgebrochen worden war. Meine Enttäuschung war grenzenlos. Auch die dramatische und letztlich glückliche Rückkehr der drei Astronauten zur Erde konnte mich nicht wirklich entschädigen. Ich wollte Jim Lovell, meinen Helden, auf dem Mond sehen.
Ein paar Wochen später wurde mein Bruder Paul auf der Straße vor unserem Haus von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Als meine Eltern am Nachmittag aus dem Krankenhaus zurückkehrten, hörte ich, wie sie den versammelten Nachbarn entmutigt berichteten, Paul werde den Tag wohl nicht überleben.
Eine halbe Stunde später wurde ich völlig überraschend von meinem gesamten Blockflöten-Spielkreis zur Musikschule abgeholt. Ich begann zu ahnen, was die NASA nach der Rückkehr von Apollo 13 mit „Successful Failure“ gemeint hatte. Acht Wochen später kehrte Paul, zwar verunsichert und schüchtern, aber körperlich gesund aus dem Krankenhaus zurück.
The Beginning, Not the End
Ab Apollo 14 war ich am Fernseher dabei. Günter Siefarth, in aus heutiger Sicht ausgesprochen skurriler WDR-Studio-Deko, und Werner Büdeler, der, oft kaum verständlich, per Telefon aus Houston berichtete, wurden meine Freunde. Ich folgte den Astronauten unverdrossen bei ihren Ausflügen im Lunar Rover durch Schluchten und ins Hochgebirge des Mondes. Dass die NASA das Programm nach Apollo 17 frühzeitig beendete, erleichterte mich trotzdem. Von Flug zu Flug wuchs meine Furcht, dass irgendwann Astronauten auf dem Mond stranden würden. Letzter Mensch auf dem Mond war im Dezember 1972 Apollo 17 Commander Gene Cernan. Er hatte schon vor dem Flug immer wieder verkündet, dies sei nicht das Ende der Erkundung des Mondes, sondern der Anfang. Bis heute hat sich diese Prophezeiung nicht erfüllt.
Ich war inzwischen Gymnasiast und begann, mich deutlich mehr für Musik, Mofas und Mädchen zu interessieren als für die Raumfahrt. Erst durch einen Besuch 1992 im Air and Space Museum in Washington flammte die Leidenschaft wieder auf.
Im Herbst 2015 besichtigte ich das Johnson Space Center in Houston. In einem abgedunkelten Raum wird dort die Kommandokapsel von Apollo 17 ausgestellt. Ganz langsam und vorsichtig streckte ich meine Hand aus. Ich berührte die Einstiegsluke.
Das Selfie oben entstand im historischen Mission Control Room bei meinem zweiten Besuch in Houston/Texas, im April 2017. Von hier aus wurden alle Apollo-Mondlandemissionen überwacht.